Definition und IDENTITÄT
Als „Russlanddeutsche“ werden die Nachfahren von Siedlern aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa bezeichnet, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen des Russischen Reiches niedergelassen hatten. Als Sammelbezeichnung gibt es diesen Begriff erst seit dem 20. Jahrhundert. Zuvor standen die konfessionellen und regionalen Unterschiede zwischen den evangelischen, katholischen und mennonitischen Kolonisten an der Wolga, im Schwarzmeergebiet, in Wolhynien, im Kaukasus und in anderen Regionen des Russischen Reiches im Vordergrund. Die Vorstellung eines einheitlichen „Russlanddeutschtums“ war gleichermaßen Produkt der sowjetischen Nationalitätenpolitik wie der deutsch-völkischen Imagination der Zwischenkriegszeit. Die geteilte Verfolgungs- und Diskriminierungserfahrung vor allem in der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg führte zur Entstehung einer realen russlanddeutschen „Schicksalsgemeinschaft“. Heute lebt der Großteil der Nachfahren der Kriegsgeneration als Spätaussiedler in der Bundesrepublik Deutschland.
So wie sich die Bayern von den Ostfriesen unterscheiden und die Schotten von den Engländern, so unterschieden sich auch die Russlanddeutschen: „Die“ Russlanddeutschen gab es nicht, Russlanddeutsche waren zu keiner Zeit eine homogene Gruppe.
Die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Russlanddeutschen war die bäuerliche Bevölkerung, die in russlanddeutsch geprägten Orten wohnte. Aber auch in dieser Gruppe gab es Unterschiede. Zum Beispiel gab es unterschiedliche Dialekte, unterschiedliche Konfessionen und natürlich lebten die Menschen an unterschiedlichen Stellen des riesigen russischen Reiches, was ihre jeweilige kulturelle Entwicklung individuell prägte. Eigene Traditionen und eine jeweils eigene Kultur entwickelten sich in der Familie, vor allem aber auch in sozialen Institutionen wie in Schulen und Kirchen, durch Zeitungen und Zeitschriften und in den Dorfgemeinschaften mit ihrer Struktur der Selbstverwaltung.
Die Identität der Russlanddeutschen, wie auch ihre Kultur, waren mobil und sind es auch noch heute. Zogen die Russlanddeutschen an einen anderen Ort – was im Laufe ihrer Geschichte oft vorkam-, nahmen sie ihre Kultur mit. Aber natürlich lebten die Russlanddeutschen nicht völlig abgeschlossen. Äußere Einflüsse prägten sowohl die Kultur als auch das Selbstverständnis. Solchen Einfluss übten z. B. die Kultur(en) der Nachbarn aus als auch wirtschaftliche oder politische Faktoren.
Unsere Geschichte
Die Geschichte der Russlanddeutschen ist eine Geschichte von intensiver Mobilität in Raum und Zeit – eine Migrationsgeschichte über mehrere Generationen. Auf die ursprüngliche Ansiedlung in den weitgehend autonomen und privilegierten Kolonien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert folgten Wanderungen innerhalb des Russischen Reiches und jenseits seiner Grenzen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden neue deutsche Kolonien im Kaukasus. In den 1870er Jahren, als die Privilegien der Kolonien im Zuge der Großen Reformen des Zaren Alexander II. aufgehoben wurden, begann die Emigration von Russlanddeutschen aller Konfessionen nach Nord- und Südamerika. Ihre Nachkommen identifizieren sich zum Teil bis heute mit ihrem kulturellen Erbe. Ab den 1890er Jahren entstand eine Vielzahl neuer deutscher Dörfer in Sibirien und Kasachstan. Es handelt sich um Gebiete, welche damals verstärkt vom Russischen Reich erschlossen wurden. Russlanddeutsche migrierten also in westliche und östliche Richtung.
Die gewaltvollen Krisenjahre in Russland von 1914 bis 1921 markierten einen Wendepunkt in der Geschichte der Russlanddeutschen. Im Ersten Weltkrieg wurden die Russlanddeutschen aufgrund ihrer deutschen Herkunft und der daraus angeblich folgenden Assoziation mit dem Kriegsgegner von der zaristischen Regierung als „innerer Feind“ markiert und verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Dazu gehörten die „Liquidierung“ von Eigentum und Deportationen. Nach der Revolution 1917, in Folge des Russischen Bürgerkriegs und der großen Hungersnot an der Wolga 1921/22, emigrierten gut 120.000 Russlanddeutsche nach Deutschland und in vielen Fällen von dort weiter nach Amerika. Die große Mehrzahl der Russlanddeutschen blieb jedoch im Land und erlebte zunächst eine erneute Phase von relativer Autonomie im Rahmen der leninistischen Politik der kulturellen Förderung nationaler Minderheiten. In diesem Zusammenhang erfolgte im Jahr 1924 die Gründung der Autonomen
Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen. Im Zuge der Verschärfung der stalinistischen Herrschaft in den 1930er Jahren gerieten die Deutschen, wie auch andere „Diasporaminoritäten“, jedoch zunehmend unter Druck und wurden Opfer gezielter „Operationen“ im Rahmen des „Großen Terrors“ der Jahre 1937/38.
Der Zweite Weltkrieg setzte die zu jener Zeit im Lande verbliebenen ca. 1,4 Millionen Russlanddeutschen endgültig in Bewegung. Etwa 900.000 von ihnen, von der Wolga, der Krim, aus dem Kaukasus und dem Süden Russlands, wurden kurz nach dem deutschen Überfall ab Ende August 1941 nach Osten deportiert; die ASSR der Wolgadeutschen wurde abgeschafft. Die Deportation beendete die hergebrachte Existenz der Kolonien und zerstörte mittelfristig Kultur und Sprache der Russlanddeutschen, da ihnen die Strukturen zu ihrem Erhalt genommen worden waren. Auf die Umsiedlung folgte für gut 350.000 Russlanddeutsche – Männer und Frauen – der Einzug in die sogenannte „Arbeitsarmee“ (Trudarmija), wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Deportation und Arbeitseinsatz forderten laut dem Historiker Viktor Krieger gut 150.000 Todesopfer.
Die ca. 340.000 Deutschen im Schwarzmeergebiet blieben hingegen zunächst von der Deportation verschont und gerieten unter deutsche Besatzungsherrschaft. In den Jahren 1943/44 wurden sie von den NS-Behörden ins besetzte Polen (den „Warthegau“) umgesiedelt. Von dort flohen sie gegen Kriegsende vor der vorrückenden Roten Armee nach Westen. Die Mehrzahl von ihnen, über 200.000 Personen, wurde von den sowjetischen Behörden „repatriiert“. Das bedeutete Verbannung in dieselben Gebiete, in denen schon die Deportierten von 1941 als „Sondersiedler“ lebten. In der Verbannung entstand die „Schicksalsgemeinschaft“ der Russlanddeutschen – in den Worten des Schriftstellers György Dalos „eine homogene graue Masse, deren Kitt ihre ethnische Zugehörigkeit war. […] Es entstand ein merkwürdiges Deutschtum, ein Volk, aber keine Nationalität im Sinne der sowjetischen Gesetze – ein Volk, dessen Heimat statt der geographischen die imaginäre Bezeichnung ’spezposelenije‘, Sondersiedlung, trug.“[7]
Bis 1955 lebten die verbannten Russlanddeutschen unter einem extrem restriktiven Mobilitätsregime, der sogenannten „Kommandantur“. Nach deren Ende migrierten viele zunächst innerhalb des asiatischen Teils der Sowjetunion, beispielsweise in die damals verstärkt besiedelten „Neuland“-Gebiete in Kasachstan. Erst in den 1970er Jahren kam es zu Ausreisen in die Bundesrepublik in größerer Zahl (ca. 70.000 Personen während des gesamten Jahrzehnts). Hier fanden die Russlanddeutschen Aufnahme als Aussiedler. Diejenigen russlanddeutschen Umsiedler, die nach dem Krieg in Westdeutschland geblieben waren, waren dabei der Anlaufpunkt für ihre in der Sowjetunion lebenden Verwandten, da die Aussiedlung von dort während des Kalten Krieges nur als Familienzusammenführung möglich war. Die Mehrheit der Russlanddeutschen konnte aber erst im Zuge der Perestroika und nach dem Zerfall der Sowjetunion emigrieren – von 1987 bis heute ca. 2,4 Millionen Menschen. Gegenwärtig leben nur noch ca. 400.000 Menschen, die sich selbst als Deutsche identifizieren, in der Russischen Föderation und weitere ca. 180.000 in Kasachstan, den Hauptsiedlungsgebieten der Russlanddeutschen in der Nachkriegszeit.
Die Artikel zum Historischen Überblick wurden mit freundlicher Genehmigung unseres Kooperationspartners Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte zur Veröffentlichung auf der Webseite der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen gGmbH im Sinne der Geschichtsvermittlung freigegeben.