Familie Vetter

Datum: 25.11.2021
Ort: o.A.

Trotz allem bin ich ein glücklicher Mensch

Anfangs Juli 2021 wurde ich 90 Jahre alt. Ein langes Leben, das viele historisch bedeutungsvolle Ereignisse umfasst, liegt hinter mir. Und viele von ihnen habe ich hautnah miterlebt.

Kurz nach meiner Geburt kam die organisierte verbrecherische Horde mit dem Anführer A. Hitler in Deutschland an die Macht. Das hat das schwere Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion auf viele Jahrzehnte vorherbestimmt. Das Unglück nicht nur der Deutschen, sondern aller Völker des vielnationalen Staates, lag darin, dass zu dieser selben Zeit in der Sowjetunion der Tyrann J. Stalin herrschte. Und die beiden Ungeheuer A. Hitler und J. Stalin haben viel Unglück nicht nur in ihren Ländern, sondern in der ganzen Welt, verursacht.

Ich hatte eine glückliche Kindheit bis 1937, als mein Vater und seine beiden Brüder verhaftet und erschossen wurden. Das waren die blutigen 30er Terrorjahre vorigen Jahrhunderts, in denen Millionen von Menschen in meiner Heimat in friedlichen Zeiten ums Leben kamen. Auf viele späteren Jahrzehnte wurde ich ein Sohn des Volksfeindes, was für viele Kinder schwere Folgen mit sich brachte.

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, als wir unsere Wohnung, die der Vater als Leiter der deutschen Stadtschule bekommen hat und wegen seiner Verhaftung verlassen mussten. Die vier Jahre bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 mussten wir drei Mietwohnungen wechseln. Meine Mutter, von Beruf Lehrerin, war Musik-Erzieherin in den Stadtkindergärten. Das erste, was wir von Sachen verloren haben, war unser Klavier, das in keine Mietwohnung nicht passte und das in Mutters Tätigkeit sehr wichtig war. Uns blieb nur Vaters Geige.

Anfangs Oktober 1941, als die Front schon in bedrohlicher Nähe von unserer Stadt im Donbass sich befand und wir tägliche Bombardierungen erlebten, wurden alle ihre deutschen Anwohner, wie alle Deutschen der Sowjetunion, in den Osten des unermeßlich großen Staates deportiert. Einen ganzen Monat waren wir aus der Ukraine unterwegs in die Verbannung. Im Unglück hatten wir noch Glück: Als unser Zug bei Woronesch, Russische Föderation, zerbombt wurde und ein Drittel seiner Insassen ums Leben kamen, sind meine Mutter, Vaters Mutter, meine Schwester und ich am Leben geblieben.

Das Leben in einem kasachischen Aul (Dorf) war schwer: Wir haben gefroren ohne warme Kleidung und gehungert. Für ihre Arbeit in der Kolchose bekam unsere Mutter keine Belohnung: Nach dem Ernteertrag wurde den Mitgliedern der Kolchose die Belohnung für ihr Tätigkeitsjahr schon ausgezahlt. In den Jahren 1941,1942 bekam die Mutter keine Lehrerstelle. Wir mussten unsere letzten Sachen für Lebensmittel umtauschen. Das Schuljahr 1941-42 ging für mich verloren, da es in dem Aul nur eine kasachische Grundschule gab. Im Frühjahr 1942 musste ich (11 Jahre alt!) mit meiner Mutter an den Feldarbeiten teilnehmen und Ochsen antreiben, anstatt in der Schule die Bank zu drücken.

1942 wurde für die Deutschen Männer und Frauen eine Arbeitsarmee (Trudarmee) gegründet, eigentlich ein Massengrab, ein Konzentrationslager, in dem Hunderttausende von ihnen ums Leben kamen. Da meine Schwester schon älter als 3 Jahre war, musste die Mutter in die Trudarmee. Ich und meine Schwester blieben mit unserer Oma (1882). Und da hatten wir Glück, weil wir nicht ins Kinderheim mussten. Um nicht zu verhungern, wurde ich Flickschusterlehrling. Die alte Oma musste auch tätig sein: Sie hat warme Stricksachen für die Front verfertigt.

Wir hatten Glück: Anfangs Sommer 1943 wurde unsere Mutter wegen ihrem kranken Herz aus der Trudarmee entlassen, was zu jener Zeit eine Seltenheit war. 1943 kam der Wendepunkt im deutsch-sowjetischen Krieg, und schon im Schuljahr 1943-44 bekam die Mutter eine Lehrerstelle.

1946 wurden die herangewachsene 15-jährige deutsche Jungs in die Kohlengruben von Karaganda (eine Jugend-Trudarmee!) mobilisiert. Meine Mutter wollte das nicht zulassen, sie hat ihren Pass, in dem ich eingetragen war, „verloren“ und angegeben, dass ich 1932 geboren bin. Die Mutter hat mich von der Mobilisierung gerettet. Im Sommer 1946 habe ich begonnen den Dreher-Beruf auszuüben und bekam einen Metallsplitter ins Auge. Der Splitter wurde entfernt, aber die Sehkraft begann zu sinken, und ich musste später eine Brille tragen.

1947 absolvierte ich die 7-Stufen-Schule, aber wegen Kommandanturaufsicht konnte nicht weiter lernen. Die Deutschen durften ihre Wohnorte ohne Erlaubnis der Kommandantur nicht verlassen, sie verloren ihre Freizügigkeit. Ein Jahr war ich als Kassierer-Buchhalter in einer Arbeiter-Kooperative tätig.

Der Krieg war zu Ende, aber die Deutschen mussten in ihren Wohnorten bleiben. Sie wussten nicht, wie es mit ihnen weiter gehen wird, aber haben gehofft, dass sie in ihre ehemaligen Wohnorte zurückkehren werden. Vergeblich! Endlich erschien im Dezember 1948 der Erlass des Obersten Sowjets (Parlament) der Sowjetunion: Verbannung der Deutschen auf ewige Zeiten, und das Verlassen ihrer Ansiedlungsorten ohne Genehmigung der Kommandantur wurde mit 20 Jahren Sklavenarbeit bestraft. Das unschuldige Volk wurde jetzt nach ihrer Deportation 1941 auch noch verhaftet: Ihre Zellen waren ihre Wohnorte und ihre Gitter – die Grenzen ihrer Wohnorte. Ich erinnere mich noch gut an das Formular, das ich nach dem Erlass unterzeichnet habe.

In den Jahren 1948-52 übte ich in der Stadt Pawlodar, Kasachstan, den Lehrer-Beruf aus und erreichte die Hochschulreife. Da die Deutschen nicht wehrpflichtig waren und in den Universitäten und den meisten Fachhochschulen nur Wehrpflichtige studieren durften, war für die Deutschen die Auswahl der Berufe sehr gering. Dazu kam noch 1952 ein geheimer Erlass der Kommunistischen Partei Kasachstans, in dem die Quote zu studieren für die deutsche Jugend angegeben war mit einem Verbot in der Hauptstadt Kasachstans zu studieren und mit einer Liste der Berufe für deutsche Sondersiedler: Lehrer und Ärzte (nicht alle Berufsrichtungen) und landwirtschaftliche Berufe.

1952, als J. Stalin noch am Leben war, wurde mir abgesagt Mathematik an der Pädagogischen Hochschule in Semipalatinsk zu studieren. 1953 wurde mir verboten in Alma-Ata zu studieren wegen dem oben erwähnten geheimen Erlass. Ich bekam einen Studienplatz an der Pädagogischen Hochschule in Ksyl-Orda, der ehemaligen Hauptstadt von Kasachstan (ich bin rechts mit meinen deutschen Freunden abgebildet). Als ich mit meiner Ausbildung fertig war, war ich ein Jahr als Mathematikschullehrer tätig.

Weiter verlief meine Tätigkeitsbahn als Mathematikhochschullehrer an den Hochschulen von Kasachstan und Russland. 1958-61 – Pädagogische Hochschule, Ksyl-Orda; 1961-71 – Daghestaner Filiale der Leningrader Schiffbauhochschule; 1971-92 – Dozent und Dekan (12 Jahre) der Fakultät für Physik und Mathematik der Pädagogischen Hochschule in Ust-Kamenogorsk (Bild). Mit Unterbrechung 1965-68 studierte ich weiter Mathematik an der Aspirantur der Kasaner Universität, schrieb meine Dissertation und promovierte 1970.

Ich war schon 61 Jahre alt, als wir nach Deutschland ausgewandert sind (Frankfurter Flughafen, 29.04.92). Jetzt hatten wir neben der neuen Heimat, Heimat unserer Vorfahren, auch eine kleine Heimat. Sofort bin ich der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland beigetreten. Mit meinen Freunden gründeten wir die Orts- und Kreisgruppe „Offenbach-Land“.

Bis 2001 war ich an der Volkshochschule in Seligenstadt tätig, habe Gymnasiasten in Analysis und Analytische Geometrie zu den Abschlussprüfungen vorbereitet, gab Mathematik- Nachhilfe.

Generationen jeder Familie der Deutschen aus Russland haben im verschiedenen Maße die weiter aufgezählten Ereignisse in der ehemaligen Sowjetunion erlebt:

– Die Zeiten der Entkulakisierung, Enteignung und Kollektivierung, die blutigen 20er und 30er Stalin-Terrorjahre mit unzähligen Opfern;

– Deportation der deutschen Minderheit 1941 wegen ihrer Nationalität;

– Gründung der Arbeitsarmee für deutsche Männer und Frauen;

– Verbannung auf ewige Zeiten aller Deutschen der Sowjetunion, „Ohne Schuld schuldige“;

– Kommandanturaufsicht, Verlust der Freizügigkeit;

– Rückwanderung in die Heimat ihrer Vorfahren nach Hunderten von Jahren Millionen deutscher Nachkömmlinge;

Sind das nicht historische phänomenale Erscheinungen, die die Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion getroffen haben?

Ich erwähne noch ein Ereignis, das bis heute vor meinen Augen steht: Die KGB wollte aus mir einen Spitzel machen. Das war üblich in der ehemaligen Sowjetunion, die von einem dichten Netz aus Spitzeln übersät war. 1961 wurde ich einen ganzen Monat lang nachts verhört, ich sollte einwilligen, Spitzel zu werden, was ich natürlich nicht tat. Unterstützt von meiner Mutter und meinem Onkel, habe ich auch diese schwere Zeit überstanden.

Es gibt im täglichen Leben nichts Ideales oder Absolutes, es gibt auch kein ideales Land und keine ideale Gesellschaft, in denen das Leben nur positiv verläuft. Das Leben jedes einzelnen Menschen besteht aus Höhen und Tiefen. Je mehr Höhen als Tiefen der Mensch in seinem Leben erlebt, desto besser verläuft sein Leben. Hier ist wichtig die Verhältnismäßigkeit, die Vergleichsbarkeit.

Ich und meine Familie hatten in unserem Leben in der ehemaligen und haben in unserer neuen Heimat viele Höhen und Tiefen. Nur hier gibt es bei uns mehr Höhen als Tiefen, und die Höhen dauern längere, die Tiefen eine kürzere Zeit an. Das ist für mich die Formel eines glücklichen Lebens: Ein glückliches Leben ist direkt proportional länger andauernden Höhen und indirekt proportional kürzere Zeit andauernden Tiefen.

Ich bin mit meinen Kindern und Enkelkindern in Deutschland, das jetzt unsere neue Heimat, unser Zuhause ist, glücklich, wir sind hier alle angekommen (das Bild zeigt mich mit meinen Enkelkindern zu meinem 90. Geburtstag im Juli 2021).

Erwin Vetter im Interview (vom 24.11.2020)

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