Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
zwischen Vertreterinnen und Vertretern russlanddeutscher Selbstorganisationen in Hessen und der Regionalvertretung Uralsk der Organisation „Wiedergeburt“
Seit Jahrhunderten leben Menschen deutscher Herkunft im Westen Kasachstans. Ihre Geschichten bewegen sich vielfach im Spannungsfeld zwischen sichtbarem Kulturerbe und leiser Unsichtbarkeit.
Mit dem Projekt „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ entwickelten Vertreterinnen und Vertreter russlanddeutscher Selbstorganisationen in Hessen und die Regionalvertretung Uralsk der Organisation „Wiedergeburt“ ein gemeinsames Format, das einen lebendigen, gleichberechtigten Austausch ermöglicht. Im Zentrum standen die Bewahrung und zeitgemäße Weiterentwicklung russlanddeutscher Kulturarbeit. Es ging darum, voneinander zu lernen, neue Ansätze zu erproben und Räume für Begegnung, Kreativität und Diskussion zu schaffen.
Das Projekt wurde gefördert durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat und gliederte sich in zwei Abschnitte: eine Reihe digitaler Vorbereitungstreffen sowie eine einwöchige Delegationsreise nach Uralsk, die vom 30. Juli bis 6. August 2025 stattfand. Das Begegnungsprogramm war vielfältig gestaltet: Es verband historische Spurensuche mit künstlerischer Praxis, generationsübergreifende Aktivitäten mit Fachgesprächen, informelle Austauschräume mit methodisch geführten Reflexionsphasen. Die Formate reichten von Stadtführungen über Workshops und Diskussionen bis hin zu einem partizipativen Kunstprojekt.
Delegationsreise
nach Uralsk
31. Juli 2025 Der erste Programmtag begann mit einem Einführungstreffen in der Regionalvertretung Uralsk der Organisation „Wiedergeburt“. Nach der Begrüßung durch die Gastgeber erhielt die hessische Delegation einen Einblick in Struktur, Geschichte und aktuelle Arbeit der Organisation. Im anschließenden Gespräch wurde das Wochenprogramm vorgestellt und gemeinsam in den Kontext der deutsch-kasachischen Zusammenarbeit eingeordnet. Am Nachmittag folgte ein Besuch im Heimatmuseum „Altes Uralsk“. Die Ausstellungsstücke erzählten von lokalen Lebenswelten, von Siedlungen, Handwerkstraditionen und politischen Umbrüchen. Im Anschluss daran fand ein Begegnungsnachmittag im kasachischen Stil statt. Bei Tee, Gebäck und traditionellen Speisen kamen die Gäste aus Hessen mit Vertreterinnen und Vertretern der gastgebenden Organisation ins Gespräch. In lockerer Atmosphäre wurde über Alltagskultur, familiäre Prägungen, Generationserfahrungen und das Selbstverständnis nationaler Minderheiten in Kasachstan gesprochen.
1. August 2025 In den zweiten Tag startete die Gruppe mit einem kreativen Zugang zur sprachlichen Tradition. Jugendliche eröffneten das Thema „Sprichwörter und Redewendungen“ mit einer Präsentation zu Herkunft und Bedeutung russlanddeutscher Sprichwörter. Im anschließenden Workshop arbeiteten die Jugendlichen mit der hessischen Delegation an der künstlerischen Umsetzung ausgewählter Sprüche. Hierbei wurden Stoffbeutel gestaltet und individuelle Bedeutungen ins Bild gesetzt. Während der Arbeit entstand ein lebendiger Austausch über Sprache, Lebenswelt und persönliche Zugänge zur russlanddeutschen Identität. Daran anschließend folgte ein Gespräch über unterschiedliche Ansätze in der Jugendarbeit beider Länder mit besonderem Blick auf Motivation, Zielgruppenansprache und generationsspezifische Herausforderungen. In der zweiten Tageshälfte wurde das Thema weiter auf handwerkliche Weise vertieft. In einem Pyrographie-Workshop arbeiteten die Teilnehmer mit Sprüchen und Ornamenten, die sie mithilfe eines Brennkolbens auf Holzplatten übertrugen. Die Gestaltung erfolgte gemeinsam mit Senioren aus Uralsk. Dabei ging es nicht nur um Technik, sondern auch um den Dialog zu den Themen Erinnerungen, Alltagsästhetik und kulturelle Prägungen.
2. August 2025 Der Samstagvormittag stand im Zeichen von Bewegung und Gesundheit. In zwei aufeinander abgestimmten Einheiten beteiligten sich Jugendliche und Senioren an Atem- und Aufwärmübungen sowie an einer Yogaeinheit im Freien. Beide Formate förderten das Körperbewusstsein, regten zur aktiven Selbstfürsorge an und schufen Gesprächsanlässe über alltägliche Routinen, gesundheitliche Herausforderungen und individuelle Wege zum Wohlbefinden.
Im Anschluss folgte ein Musikworkshop mit starkem pädagogischem Fokus. Ziel war es, junge Menschen über musikalische Mittel für die deutsche Sprache zu begeistern. Unter Anleitung von Ilya Fedorov und dem Musiker Oleg von Riesen arbeiteten die Jugendlichen mit einem aktuellen Liedtext. Dieser wurde zunächst wörtlich ins Russische übersetzt, anschließend inhaltlich interpretiert und auf sprachliche Bilder hin untersucht. Die Diskussion über Bedeutungsnuancen und die kreative Weiterentwicklung des Textes mündeten in eine musikalische Umsetzung, die das Gemeinschaftsgefühl stärkte und das Gelernte emotional verankerte. Die Methode erwies sich als effektives Instrument zur Sprachförderung, insbesondere für Jugendliche mit wenig formalen Vorkenntnissen.
Am Nachmittag machte sich ein Teil der Gruppe auf den Weg zu einer thematischen Radtour durch das Umland von Uralsk. An ausgewählten Stationen wurden Spuren der deutschen Siedlungsgeschichte sichtbar gemacht und in ihren historischen Kontext eingeordnet. Die Bewegung im öffentlichen Raum eröffnete ungewöhnliche Perspektiven auf bekannte Orte. Parallel dazu fand ein handwerklicher Workshop zum traditionellen Weidenflechten statt. Die Technik wurde als Teil des immateriellen Kulturerbes vermittelt. Die Arbeit mit Naturmaterialien ermöglichte einen entschleunigten Zugang zum Thema Nachhaltigkeit und bot Anlass für Gespräche über Alltagskultur, Ressourcenbewusstsein und handwerkliche Weitergabe zwischen den Generationen.
3. August 2025 Am Sonntagvormittag fuhr die Gruppe an den See Teplaya Staritsa. Der Ausflug diente als Anlass, sich spielerisch mit Fragen der Gruppenarbeit auseinanderzusetzen: Ein Geschicklichkeitsspiel in gemischten Kleingruppen regte dazu an, über niedrigschwellige Kennenlernformate und Methoden zur Aktivierung in der Jugendarbeit nachzudenken. In der anschließenden Gesprächsrunde wurden Aspekte wie Motivation, Gruppendynamik und Zugangsmöglichkeiten zu jungen Zielgruppen diskutiert.
Der Nachmittag stand im Zeichen der Projektentwicklung. In Kleingruppen wurden konkrete Ideen für künftige Kooperationsformate gesammelt. Dabei entstanden vielseitige Ansätze – von digitalen Austauschformaten über Kunstprojekte bis hin zu gemeinsamen Kulturveranstaltungen. In der Abschlussrunde wurden die Vorschläge vorgestellt, priorisiert und mit Blick auf Umsetzbarkeit reflektiert. Der Wunsch nach einer Fortsetzung der Zusammenarbeit, etwa im Rahmen einer Rückbegegnung in Hessen, wurde deutlich formuliert.
4. August 2025 Der fünfte Projekttag begann mit einem kunstpädagogischen Format, das an die regelmäßige Praxis der IDRH anknüpfte. Bei Familiennachmittagen mit Kreativangeboten werden niedrigschwellige Räume geschaffen, in denen Kinder künstlerisch tätig werden und Erwachsene miteinander ins Gespräch kommen über Fragen des familiären Alltags, über Mediennutzung oder über kulturelle Prägungen. In Uralsk wurde ein solcher Zugang erprobt und weitergedacht. Die Delegation erhielt eine praktische Anregung für die kreative Arbeit mit Kindern ab sechs Jahren: die Herstellung von Stoffpuppen mit Elementen traditioneller Kleidung. Diese gestalterische Übung verbindet Feinmotorik, Fantasie und kulturelle Themen auf anschauliche Weise und eignet sich als thematischer Einstieg, um mit Familien über Herkunft, Zugehörigkeit und Weitergabe von Traditionen zu sprechen.
Am Nachmittag war die Delegation zu Gast im tatarischen Kulturzentrum von Uralsk. Die Begegnung wurde von einemm musikalischen Willkommensgruß eingeleitet. Es folgte eine Führung durch das Gabdulla-Tukaj-Museum, das dem Leben und Werk des bedeutendsten tatarischen Dichters gewidmet ist. Tukaj lebte und arbeitete zwischen 1895 und 1907 in Uralsk, verfasste hier seine ersten Gedichte und gründete ein eigenes Magazin. Seine Sprache verband klassische Formen mit volkstümlichen Bildern, seine Werke prägten die tatarische Literatur des 20. Jahrhunderts nachhaltig.
Im anschließenden Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern des Zentrums wurden Geschichte, Aufgaben und Herausforderungen der tatarischen Selbstorganisation vorgestellt. Die Gastfreundschaft war beeindruckend – Mitglieder der Gemeinschaft bereiteten eine Auswahl traditioneller Speisen und öffneten ihre Räume für einen offenen Dialog.
Den Tagesabschluss bildete ein geführter Stadtrundgang mit Fokus auf Architektur. Der Rundgang begann am Gabdulla-Tukaj-Denkmal, das im Jahr 2001 enthüllt wurde und vom Bildhauer M. M. Gerasimov stammt. Anschließend besuchten wir die Erzengel-Michael-Kathedrale, eines der ältesten erhaltenen Bauwerke der Stadt. Sie wurde zwischen 1740 und 1751 im historischen Zentrum errichtet und ist dem Schutzpatron der Kosaken, dem Erzengel Michael, geweiht. Das Stadtbild Uralsks ist stark durch die Architektur der späten Zarenzeit geprägt. Besonders auffällig ist die Vielfalt der Formen, die sich in einer als Eklektik bezeichneten Mischung zeigt. Zwischen 1880 und 1910 entstanden in diesem Stil zahlreiche öffentliche Gebäude, Handelshäuser und Schulen. Ein besonderes Highlight bildete der Besuch der Apotheke Straussa, auch bekannt als Apotheke Nr. 1. Sie gilt als die älteste noch betriebene Apotheke der Stadt und wurde 1868 vom deutschstämmigen Apotheker Alexander Fjodorowitsch Straus gegründet.
5. August 2025 Der letzte Tag der Projektwoche stand im Zeichen der Beobachtung, der künstlerischen Auseinandersetzung und der abschließenden Reflexion. Am Vormittag besuchte die Gruppe einen Rynok – einen traditionellen Basar –, um den öffentlichen Raum als soziales und kulturelles Gefüge wahrzunehmen. Zwischen Marktständen, Verkaufsrufen und kurzen Gesprächen eröffneten sich Einblicke in Konsumgewohnheiten, Alltagsästhetik und informelle Strukturen des Zusammenlebens.
Im Anschluss fand in den Räumlichkeiten der Regionalvertretung das partizipative Kunstprojekt „Below the Current“ statt. In Anlehnung an den Fluss Ural, der Uralsk seit Jahrhunderten prägt, entstand ein großformatiges Gemeinschaftsbild. Zwei lokale Nachwuchskünstlerinnen legten mit Blautönen die malerische Grundlage – wie ein Blick in eine stille Unterwasserwelt. Danach ergänzten alle Beteiligten ein eigenes Element: ein Motiv, eine Farbe, eine Linie. Geplant war zudem der Einsatz phosphoreszierender Farbe als visuelle Metapher für das Nachleuchten der Erfahrungen. Dieser Schritt wird von den Partnern vor Ort noch umgesetzt. Das Werk bleibt dauerhaft in Uralsk als sichtbares Zeichen der Zusammenarbeit und der künstlerischen Auseinandersetzung mit Raum, Zeit und Erinnerung.
Am frühen Abend führte eine lokale Journalistin ein Interview mit der Delegation über Zielsetzung, Ertrag und zukünftige Pläne. Zum Abschluss trat die Gruppe zum Abendessen zusammen. Gemeinsam wurden Erlebnisse sortiert, Erkenntnisse benannt und Perspektiven formuliert. Welche Begegnungen haben bewegt? Welche Ansätze möchten wir weiterverfolgen? Wie lassen sich die gesammelten Erfahrungen in künftige Projekte übersetzen? Dabei wurde deutlich: Das Projekt hat zahlreiche Impulse freigesetzt – methodisch, thematisch und persönlich.