Interview mit Lilli Gebhard

Datum: 11.04.2021
Ort: o.A.

Lilli Gebhard ist Lyrikerin und Lehrerin für Geschichte und Deutsch. Mit ihrer Promotion wirft sie ein Schlaglicht auf russlanddeutsch-mennonitische Identitäten. Sie ist wohnhaft in der Nähe von Stuttgart mit ihrem Mann und ihren drei Kindern, fühlt sich aber „in der Welt zuhause“. Wir sprachen mit ihr über ihren Gedichtband Wie Schatten werden, ihren Bezug zu Russlanddeutschen und ihre Haltung zur heutigen Erinnerungskultur.

Das lnterview wurde geführt von Katharina Haupt, Bildungsreferentin für Medien-, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen im Rahmen des Projekts 80 Jahre Deportation. Wir erinnern uns. Es erschien in der Aprilausgabe 2021 in der Volk auf dem Weg, der Verbandszeitschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

Katharina Haupt: Im Februar 2021 erschien im Manuela Kinzel Verlag Ihre Gedichtsammlung „Wie Schatten werden“. Wovon handeln diese Gedichte?

In den Gedichten im Band „Wie Schatten werden“ schreibe ich über die leidvolle russlanddeutsche Vergangenheit, entwickele aber auch Zukunftsperspektiven.

Beim Blick in die Geschichte der Russlanddeutschen, sehen wir seit 1918 fast alle drei bis fünf Jahre Ereignisse, die man als traumatisierend bezeichnen kann. Wir wissen heute, dass Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn sie nicht bearbeitet und aufgelöst werden. Ich versuche in meinen Gedichten, die emotionale Seite der leidvollen Erfahrungen spürbar zu machen und beschreibe gleichzeitig mögliche Auswege.

Was hat Sie zu diesen Gedichten inspiriert? Gerne können Sie an dieser Stelle etwas ausführlicher Ihre Dissertation erläutern.

Lange Zeit habe ich mich damit befasst, wie und aus welchen Gedanken russlanddeutsche Mennoniten ihre Identität zusammensetzen. In meiner Dissertation („Identitätskonstruktionen russlanddeutscher Mennoniten im Spiegel ihrer Literatur“, 2014, Peter Lang Verl.) beschreibe ich Rollenvorstellungen, Ideale, Vorstellungen von Heimat und Familienkonstellationen. Dafür habe ich viele Texte von russlanddeutsch-mennonitischen Autoren gelesen, in denen es größtenteils um die Vergangenheit geht. Immer wieder geht es in diesen Texten um Enteignung, Deportation und Diskriminierungen. Was mich überrascht hat, war der sachliche Ton, in dem die furchtbaren Erlebnisse beschrieben werden. Trauer, Traurigkeit oder andere Emotionen fehlen. Und obwohl es bei Russlanddeutschen sehr viel um Gemeinschaft geht, fand ich in den Texten überwiegend Einsamkeit.

Die fehlende Trauer und die Einsamkeit habe ich in der Arbeit zwar erwähnt, habe es aber nicht richtig bearbeiten können. Das mache ich nun in den Gedichten eben auf eine andere Art. Ich versuche, der Trauer und der Einsamkeit Raum zu geben und sie fühlbar zu machen. Auf diese Weise hoffe ich, dass die Erzählungen der älteren Generationen nicht nur verstehbar, sondern auch nachfühlbar werden. Ich glaube, dass nicht nur das rationale Verstehen wichtig ist, sondern auch ein emotionales Anknüpfen.

Floss Ihre eigene Biografie in die Gedichte ein und wenn ja, inwiefern? Haben Sie eine persönliche Verknüpfung zur Geschichte der Russlanddeutschen?

Meine Eltern sind 1977 aus Bischkek nach Deutschland gekommen. Ich bin zwei Jahre später in Deutschland geboren. Danzig, Ukraine, Sibirien und der Nord-Ural sind Stationen meiner Vorfahren. Ich esse Pilmeni und Borscht. Ich bin russlanddeutsch aufgewachsen und erzogen worden. Immer wieder habe ich als Kind erlebt, wie Verwandte, die ich bis dahin nie gesehen habe, aus einem fernen Land plötzlich aufgetaucht sind und Teil meines Lebens wurden. Ja, einerseits bin ich Russlanddeutsche. Andererseits habe ich keinerlei eigene Erinnerung an eine Zeit, die für die Gruppe so prägend war. Es ist merkwürdig, zu einer Gruppe zu gehören, aber überwiegend über die Erinnerungen anderer verbunden zu sein.

Mein Vater hat mich für unsere Geschichte begeistert. Und ich hatte das Glück, dass mir meine Großmutter sehr viel erzählt hat. In meinen Gedichten schreibe ich auch immer wieder über meine Großmutter. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich um Gedichte handelt, dass alles verdichtet ist, also besonders dicht zusammengefügt worden ist. Natürlich ist es verändert und ich beschreibe nicht meine eigenen Gefühle, die ich genauso erlebt hätte, sondern versuche, allgemeineren Empfindungen und Wahrnehmungen Raum zu geben, die ich den vielen verschiedenen Erzählungen entnommen habe.

Ich versuche auch, Verbindungen zu anderen Gruppen herzustellen. In Gesprächen mit Flüchtlingen finde ich beispielsweise Parallelen zu dem, was meine Großmutter mir erzählt hat. Ich frage mich, wo die Verknüpfungen sind und zum Teil finde ich sie in den erlittenen Traumata, die ich gerade auch in den Märchen in der deutschen Kultur festgeschrieben sehe. Und so komme ich immer wieder an den Punkt: Die Last aus der Vergangenheit, die manche heute als Scherben bezeichnen, als Fragmente von leidvollen Erfahrungen, die in vielen Menschen Gefühle von Einsamkeit und Abgrenzung auslösen, all das verbindet uns eigentlich mit den Menschen um uns herum.

Was möchten Sie Ihren Leserinnen und Lesern mit diesen Gedichten mitgeben?

Ob ich etwas mitgeben möchte, kann ich so nicht sagen. Ich möchte anregen, Wege in die Zukunft zu finden. Der Blick ist oft in die Vergangenheit gerichtet. Ich frage mich, ob es auch möglich ist, Identität in die Zukunft hinein zu entwickeln.

Wenn ich nehme, was geworden ist und meinen Mitmenschen zuhöre, finde ich Gemeinsamkeiten. Ich glaube tatsächlich, dass wir zu mehr Verbundenheit finden könnten, wenn wir uns unsere Geschichten erzählen und vor allem uns gegenseitig zuhören würden.

In Ihren Gedichten werfen Sie einen Blick in die Vergangenheit. Wieso ist es Ihnen wichtig, an Vergangenes zu erinnern?

Aus dem Vergangenen versuchen Russlanddeutsche zu erklären, wer sie sind. Ich denke, dass sich in den letzten 80 Jahren viel Schmerz angesammelt hat. Jede Familie hat ihre eigenen leidvollen Geschichten, die sich im Kern ähneln. Und ich frage mich, was wir mit diesem Schmerz machen. Werden wir darüber verbittern? Wollen wir alles vergessen und werden geschichtslos? Oder werden wir es schaffen, den Schmerz umzuwandeln? Die Auseinandersetzung mit der eigenen leidvollen Geschichte muss meiner Meinung nach dazu führen, das Leid der Anderen zu sehen und aktiv zu werden.

2021 jährt sich die Deportation deutscher Sowjetbürger aus dem europäischen Teil der UdSSR zum 80. Mal. Wie finden Sie den heutigen Umgang mit Erinnerungskultur und gibt es Nachholbedarf?

Im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte wird diesbezüglich hervorragende Arbeit geleistet. Ich freue mich über neue Formate, wie den Podcast „Steppenkinder“, in dem sehr kompetent und sympathisch über verschiedene Aspekte russlanddeutscher Identität informiert wird. Der Podcast schließt eine Lücke, die bis dahin tatsächlich bestand. Was fehlt, ist eine Diskussion der nächsten Generation, der in Deutschland Geborenen. Zudem wünsche ich mir ein Erinnern, das nicht nur auf die eigene Gruppe bezogen ist, das hinsieht und aktiv wird. Es ist wichtig, zu wissen, was geschehen ist, warum wir geworden sind, wie wir sind. Aber ich frage mich: Was entwickeln wir aus diesem Erinnern? Diese Frage können wir nicht losgelöst beantworten, sondern nur, wenn wir mit unseren Erinnerungen in die uns umgebende Gesellschaft eingebunden sind. Und ich möchte keine Opfermentalität für mich und meine Kinder. Darum suche ich nach Geschichten vom Widerstand, von starken Frauen und Männern, die etwas verändert haben, selbst wenn es nur in ihrer kleinen sie umgebenden Welt war. Auch solche Geschichten können das Erinnern bereichern und in die Zukunft hinein geschrieben werden.

Auszug aus dem Gedichtband

Was war wirft seine Schatten
In uns und über uns hinaus
Aufjene noch
Die nach uns kommen werden
Die Schatten spiegeln sich
Sie lassen Grenzen schwinden
Wie Hitze flimmert
Wird vor eigenem Wissen
Die Sicht verwehrt
Vorüberziehende Gesten
In Dunst und Nebel eingehüllt

Lilli Gebhard,
Wie Schatten werden – Gedichte
Manuela Kinzel Verlag, Göppingen 2021,

76 Seiten.

Preis: 11,50 Euro,

lSBN 978-3955-441-481.


Tel.: 07165 929399

E-Mail: mkinzel@manuela-kinzel-verlag.de

http://www. manuela-kinzel-verlag.de

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